Elektro ⚡️ Premiere: Kann der Kia EV6 GT-Line einen petrolhead überzeugen?
Lesedauer 7 MinutenStatt der gleichmäßigen Vibration eines Verbrenners nach dem umdrehen des Zündschlüssels erwartet einen beim beim elektrischen Vorzeige Modell von Kia nur ein kurzes Piepen beim einlegen des Gangs per Drehrad. Anschließend stellt man sich die Frage „Kann ich jetzt losfahren?“ Ja! und zwar ziemlich flott! Wie sich der Stromer mit 800V-System von Kia auf einer guten Mischung von Langstrecke, Stadtverkehr und natürlich auf dem Pass geschlagen hat? Wir haben genau das getestet.
Beim EV6 von Kia handelt es sich nicht um irgendein E-Auto, es ist DAS E-Auto des Jahres 2022! Das sagen erstmal nicht wir, sondern das sagt eine Fachkundige Jury bestehend aus 59 Autojournalisten aus 22 europäischen Ländern. Das Design ist sehr außergewöhnlich und beschert einem definitiv einige neugierige Blicke, nicht nur an der Ladesäule, sondern auch beim lautlosen dahingleiten in der Stadt. Auch die Technik ist außergewöhnlich, zumindest für seine Preisklasse! Ein sogenanntes 800V-System ist im Kia EV6 verbaut, etwas vergleichbares findet man z.B. im wesentlich teureren Porsche Taycan.
Damit beweisen die Koreaner rund um die Hyundai Motor Group zu der Kia gehört mal wieder, dass ein Auto mit der Technik des Oberklasse Segments nicht immer ein Oberklasse Preisschild tragen muss. Bei unserem Testwagen handelt es sich um das aktuelle Top-Modell, nämlich die Long Range Variante in der GT-Line. Damit liefert der Stromer 239 kW (325 PS) auf alle vier Räder. Der sogenannte EV6 GT mit wahnwitzigen 585 PS folgt später dieses Jahr. Kia bezeichnet den EV6 als sogenannten Crossover. Crossover sind gerade bei E-Fahrzeugen im Trend, die auf einer PKW-Plattform basierenden SUVs bieten viel Raum für den Akku und haben eine Sitzposition wie ein SUV. Ein Trend der laut den Verkaufszahlen absolut überzeugt und für bestimmte Zielgruppen sicher seinen Reiz hat. Persönlich können wir dem Konzept nicht ganz so viel abgewinnen. Die Crossover Modelle und damit auch der EV6 versuchen irgendwie alles zu sein: PKW, SUV, Kombi und ein bisschen Sportwagen. Wir legen uns dann doch lieber auf eines davon fest.
Zu den Zahlen: Faktencheck
Technische Daten | |
---|---|
Grundpreis | 52.890,00 Euro |
Motor / Hubraum | 2 Elektromotoren mit 77,4 kWh Akku |
Leistung | 239 kW (325 PS) |
Reichweite | 506 km |
Beschleunigung 0-100 km/h | 5,2 s |
Höchstgeschwindigkeit | 185 km/h (abgeregelt) |
Verbrauch | 17,2 kWh/100 |
Außenmaße | 4.695 x 1.890 x 1.550 mm |
Kofferraumvolumen | 490 bis 1.300 l |
Auf den ersten Blick beeindruckende Daten, viel Leistung und viel Raum für vergleichsweise wenig Geld. Die kleineren Modelle mit Heckantrieb und weniger Leistung beginnen sogar schon bei ca. 45.000 Euro. Allerdings bietet Kia auch ein paar Aufpreis-Optionen, so landet unser Testwagen bei 63.990 Euro.
Genug Theorie! Wie schlägt sich der Kia EV6 auf dem Asphalt?
Für unseren ersten ernstzunehmenden Elektro-Test musste auch eine passende Route her, es sollte von allem etwas dabei sein. Landstraßen, Stadt, Autobahn und natürlich auch Passstraßen. Als Benzin-Enthusiast kommt dann noch ein großes Problem dazu, wo kann man überhaupt laden? Welche Apps oder Karten brauche ich dafür? Ich war zu Beginn tatsächlich etwas verloren, denn meine letzten Elektroerfahrungen lagen bereits knapp 4 Jahre zurück und damals fühlte sich der Ladesäulen-Jungle eher wie ein schlechtes Experiment an als eine verlässliche Alternative zur Zapfsäule. Tatsächlich hat sich in dieser Zeit einiges geändert und sowohl die mobility+ App der EnBW als auch die App ABRP (A Better Routeplanner) kann ich jedem wärmstens ans Herz legen der sich für ein Elektroauto interessiert.
Nach den ersten Ladungen kann man die Reichweitenangst tatsächlich komplett ablegen und man sich ziemlich gut darauf verlassen, dass immer eine Ladesäule auf der Route zu finden ist. Einzig ob diese auch funktioniert ist leider noch immer ein Glücksspiel, obwohl die Quote in den letzten vier Jahren deutlich gestiegen ist.
Auf der ersten Etappe ging es ganz gemütlich über die Autobahn Richtung Freiburg. Die Paradedisziplin des EV6. Bis auf das Abrollgeräusch lautlos schwimmt er dank Autobahnassistenten II (HDA 2) mühelos im Verkehr mit und der Fahrer muss sich kaum mehr um etwas kümmern. Sämtliche Verkehrsschilder werden gut erkannt und der EV6 passt sich allen Situationen gut an. Auch die abgeriegelte Höchstgeschwindigkeit von 185 km/h fällt nicht besonders negativ auf. Für Highspeed-Junkies wird der später kommende EV6 GT erst bei 260 km/h eingebremst. Tagesziel war das Hotel Liberty in Offenburg. Gerade angekommen mussten wir noch einen bereits vollgeladenen Hybriden von der Ladesäule verjagen.
Auf der zweiten Etappe ging es teils über Landstraßen und später über die Schweizer Autobahn Richtung Zürich. Auf engeren Landstraßen kommt einem der EV6 im ersten Moment sehr groß, breit und unübersichtlich vor, das legt sich aber nach einer kurzen Eingewöhnungszeit. Einen Zwischenstopp legten wir am Vitra Design Museum in Weil am Rhein ein. Ob sich das Design des EV6 sich in einigen Jahren so zeitlos zeigt wie die Möbel von Vitra? Die Voraussetzungen stehen gut, denn beim Designer des EV6 handelt es sich um niemand geringeren als Karim Habib. Aus der Feder des ehemaliger Designchef von BMW stammt unter anderem auch der ikonische 5er BMW mit der Modellbezeichnung E60.
Die letzte und für uns wichtigste Etappe ging von Zürich auf den Schwägalp Pass und anschließend über den Bodensee zurück nach Deutschland. Nach einem kurzen Ladestop beim Porsche Zentrum Oberer Zürichsee welches zwei 350kW Lader auf dem Hof hat sollte das 2 Tonnen Schiff beweisen was es kann. Bereits nach den ersten Kilometern auf dem Pass waren wir schwer bzw. gar nicht so schwer beeindruckt. Das Gewicht hat er sich kaum anmerken lassen und dank einstellbarer Rekuperation kann man auch beim anbremsen der engsten Kehren sogar noch Energie zurückgewinnen.
Klar sprechen wir nicht über einen leichten, zwei-sitzigen Sportwagen aber für das was der EV6 ist macht er seine Sache auf kurvenreichen Passstraßen extrem gut. Durch seine Leistungsreserven kann man den Crossover auch relativ einfach wieder auf Kurs bringen wenn das Gewicht mal etwas schiebt.
Allgemein bietet ein Elektroauto ganz andere und ungeahnte Möglichkeiten auf einem Pass. Wo wir bisher der Meinung waren, dass dieses einzigartige Feeling nur mit einem Verbrenner richtig Spaß machen kann mussten wir mich eines besseren belehren lassen. Wirklich spannend wird es dann wenn die E-Autos noch kleiner und sportlicher (und gerne noch etwas leichter) werden.
Innenraum
Im Innenraum wird noch schneller klar über welche Größe an Auto wir beim Kia EV6 GT-Line sprechen. Fahrer und Beifahrer haben üppig viel Platz, die freischwebende Mittelkonsole bietet extrem viel Stauraum. Fast schon absurd wird es dann auf der Rückbank, fast schon S-Klasse artige Dimensionen hat man in der zweiten Reihe. Selbst bei extrem großen Fahrern führt das nie zu Platzmangel im Fond.
Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Öffnen des Kofferraums, knapp 500 Liter lachen einen direkt an und man fragt sich langsam wo dieses Auto seine Batterie und Motoren verbaut hat.
Das Cockpit ist Kia typisch gestaltet. Wer schon mal einen Kia gefahren ist, findet sich sehr schnell zurecht. Auch die Displays sind absolut zeitgemäß und die Usability teilweise besser als vergleichsweise bei einem Volkswagen ID3.
Die Sitze sind auch auf längeren Strecken sehr bequem und sollte das Laden mal etwas länger dauern, gibt es sogar eine Liegeposition für einen Power-Nap. Der Material-Mix fällt besonders positiv auf, nicht nur bei den Sitzen, im gesamten Auto.
Fazit
Kommen wir zurück zur Einstiegsfrage: Kann der Kia EV6 einen petrolhead überzeugen? Ja und Nein.
Der Kia EV6 GT-Line hat absolut überzeugt, so eine gute Technik in Kombination mit einem außergewöhnlichen Design bekommt man sonst nirgends, schon gar nicht zu so einem Preis. Allgemein hat der Testwagen gezeigt, dass die Elektro-Welt auch absolut spannend sein kann. Vor dem Test hätte ich mir nicht träumen lassen dass ein E-Auto auch auf längeren Strecken so Alltagstauglich ist. Der EV6 hat wirklich alles erstaunlich gut mitgemacht und man tut sich wirklich schwer seine Schwächen zu finden. Da Design bekanntermaßen Geschmacksache ist, könnte man ggf. die Heckansicht noch als Nachteil bezeichnen. Die hohe Abrisskante und das Bild der Rückleuchten ist sehr gewagt und findet nicht überall Zustimmung.
Ist der EV6 ein gutes Elektroauto? Absolut! Ist er Alltagstauglich? Was wir nach einer Woche sagen können höchstwahrscheinlich auch. Wäre er meine erste Wahl auf einem Pass? Eher nein. Grade wenn es durch die Berge geht, man ggf. noch das Dach aufmachen will, die kühle Bergluft um die Ohren wehen lassen und den Klang eines 6-Zylinder Boxermotors im Heck genießen kann. Da kann der EV6 nicht den gleichen emotionalen Gänsehaut Moment bieten. Muss er aber wahrscheinlich auch nicht.